Erst vor einer Woche stolperte ich über ein neues Buch und wieder einmal bekam ich eine Gänsehaut beim Gedanken an Kinder, Schule und Lernen. In ihrem Buch erzählt Lois Letchford von einer besonderen Zeit ihrer australischen Familie. Ihr Sohn Nicholas war ein stiller, sehr scheuer und ansatzweise ängstlicher kleiner Junge. Seine Mutter beschreibt ihn als anhänglich, zerstreut und träumerisch; seine Einschulung war eine große emotionale Herausforderung für ihn und sie; sie nennt es Desaster. Im ersten Jahr nach seiner Einschulung ließ die Schule sie wissen, dass die Testung ihres Sohnes einen sehr niedrigen IQ zeigte und er „das schlimmste Kind sei, das sie in 20 Jahren gesehen“ hätten. Hiermit begann eine wichtige Zeit für Nicholas und seine Familie mit gemeinsamen Lernerlebnissen und Möglichkeiten. Im Jahr 2018 erscheint Lois‘ Erzählung davon: „Reversed: A Memoir“ (bisher nur in Englisch erschienen). Und ebenfalls in diesem Jahr ist es soweit für ihren Sohn Nicholas, er graduiert an der Oxford Universität mit einem Doktortitel in angewandter Mathematik.
Diese Erzählung berührt, schockiert und inspiriert. Sie sollte uns auch aufmerksam machen, denn in unseren Schulen gibt es zu viele Schüler, die nicht weiterkommen, übersehen werden oder Etiketten erhalten und sogar abgeschrieben sind. Das ist falsch und riskant. Es ist zu kurz gedacht, basiert auf überholten Annahmen und wir verspielen wertvolles Potential: Kinder, die wirksame Hilfe erhalten, Wege finden, sich gesund entwickeln können, ihre Potentiale entfalten und zu kompetenten sowie engagierten Bürgern heranwachsen.
Die überholten Annahmen basieren auf der Idee, dass unser Gehirn und damit unser Können durch Gene bestimmt bzw. festgelegt ist. Die Neuro- bzw. Hirnforschung weiß es heute aber besser, das menschliche Gehirn ist sehr plastisch und anpassungsfähig. Wissenschaftler konnten beobachten und zeigen, dass in unserem Gehirn mit jeder Aktivität, mit jeder Lernhandlung und mit jeder Knobelei an Fehlern, Neuronen aktiviert werden, neue entstehen oder bestehende gestärkt werden. Beobachten, Untersuchen, Hinterfragen, Kombinieren, Analysieren, alles Lernen ist Arbeit am Gehirn.
Vor diesem Hintergrund ist ein ganz besonderer Weg des Lernens einzuschlagen, auch oder sogar vor allem mit Schülern, die hier bisher Lernschwierigkeiten zeigten. Statt Lerninhalte zu reduzieren oder um Schwächen herum zu arbeiten, ist die genaue Diagnose der individuellen Schwierigkeit umso wichtiger. Denn genau hier müssen Lehrmaßnahmen als hirnaktivierende Interventionen ansetzen, um es anzuregen und zu trainieren und Fähigkeiten zu entwickeln.
In der Mathematik ist dies eine besondere Herausforderung. Leider verlieren wir heute zu viele Schüler im Matheunterricht. Dies passiert allzu oft bereits in der Grundschule oder in einer zweiten Welle etwas später ab der 7. Klasse, wenn Lerninhalte zunehmend komplex und abstrakt werden. Bei zu vielen Schülern heißt es dann „bin eben kein Mathe-Typ“ oder „Rechenschwach“ oder sogar „Dyskalkulie“. Allzu oft ist dies falsch, denn während des individuellen Arbeitens mit Schülern fällt auf, dass fachfremde Lehrer Mathe unterrichtet hatten, dass im Matheunterricht mit Zeitdruck gearbeitet wurde und dabei kolonnenartige Rechenaufgaben, auswendig Gelerntes bzw. Kopfrechnen allzu oft im Mittelpunkt standen, dass für mathematisches Denken und Gespräche keine Zeit war oder dass Fehler knallhart verpönt waren. Wissenschaftler haben gezeigt, dass hier leicht Mathe-Angst entstehen kann.
Gerade Zeitdruck und Auswendiglernen ist in Mathe eigentlich fehl am Platze, sagt auch Jo Boaler von der Stanford University. Schüler, die nicht gut auswendig lernen können, sind in der Regel nicht weniger mathematisch kompetent; oft denken sie kreativ, sehr logisch und tiefgehend. Leider gehen solche Schüler bei „falscher Lehre“ unter, sie denken sie seien dumm, entwickeln Ängste oder nur geringes Selbstbewußtsein und schlagen schlimmstenfalls den Weg der Diagnose „Rechenstörung“ ein. Laurent Schwartz, französischer Mathematiker und Fields-Medaillen-Träger (vergleichbar mit dem Nobelpreis für Mathematik), beschreibt sein eigenes Erlebnis:
... Ich war immer sehr unsicher hinsichtlich meiner intellektuellen Fähigkeiten. Ich dachte, ich sei nur wenig intelligent. Und es ist richtig, dass ich eher langsam war und bin. Ich brauche immer Zeit, um Dinge zu erfassen, weil ich sie immer vollständig versehen muss. ... Gegen Ende der elften Klasse, dachte ich von mir selbst, ich sei dumm. Ich machte mir lange Zeit Sorgen. ... Erst dann habe ich für mich erkannt, dass Geschwindigkeit nicht so viel mit Intelligenz zu tun hat. Viel wichtiger ist es, Dinge wirklich zu verstehen und Zusammenhänge zu erkennen. Das ist Intelligenz. Natürlich ist es hilfreich, schnell zu sein und ein gutes Gedächtnis zu haben. Aber, es ist weder nötig noch ausreichend für intellektuellen Erfolg.
Mathe in Schule muss sich ändern, und zwar in zweierlei Hinsicht:
Mathe muss von alten Mythen befreit werden: Mathe in Schule darf kreativ sein und Spaß machen und natürlich
können viele, viele Schüler in Mathe erfolgreich sein.
Vielfalt in Denken und Kompetenzen muss wieder anerkannt werden: eine respektvolle Lehre begreift Fehler als
wertvolle Lerngelegenheit, erkennt verschiedene Denkweisen an, regt den Austausch und Experimente an und
schätzt vielfältige Darstellungsweisen.
Kurz zurück zur Mathe-Angst: Wissenschaftler haben gezeigt, dass bei Personen mit Mathe-Angst beim Anblick von Zahlen die Gehirnbereiche aktiviert werden, die auch bei anderen Angst-Situationen - z.B. beim Anblick von Schlangen - aktiviert werden. Im Falle solcher Angst-Situationen werden gleichzeitig die Areale im Gehirn heruntergefahren, die für Problemlösungen zuständig sind, denn hier geht es nur noch um schnelles Fight-or-Flight. Mit unbewusst vorhandener bzw. aktivierter Mathe-Angst ist das Gehirn also nur weniger leistungsfähig. Diese Mathe-Angst geht auf eigene Erfahrungen zurück und wird über Eltern und Lehrer vermittelt, oft unbewusst. Die Hirnforscherin Sian Beilock hat hierzu wichtige Erkenntnisse erarbeitet.
Hier geht es also um hirngerechte Lehre - Angst gehört nicht in Schule und Lernprozesse. Wirksame Lehrmethoden und überzeugte Lehrkräfte hingegen unbedingt! Mit dem Blick auf „Arbeit am Hirn“ sollten Lehrmethoden so ausgewählt werden, dass sie Schüler herausfordern und zum Denken bringen und ihre Hirnentwicklung füttern. In Mathe sind nachgewiesenermaßen basale Kompetenzen maßgeblich für weiteren Mathe-Erfolg: Zahlensinn und mathematisches Operieren (Zusammenhänge erkennen und nutzen). PISA hat hierzu auch interessante Ergebnisse beigetragen: In 2012 hat die OECD das Lernen von Mathematik genauer untersucht und dabei festgestellt, dass auswendig lernende Schüler die schwächsten Mathe-Schüler in den Ländern waren, und dass Länder mit einer starken Auswendiglernen-Kultur eher schwache Mathe-Ergebnisse zeigten. Die stärksten Mathe-Schüler nutzten Zusammenhänge zwischen Zahlen und Operationen in flexibler Art und Weise zur Lösungsfindung aus.
Letztlich bringt Jo Boaler es auf den Punkt: es ist natürlich nicht so, dass alle Gehirne gleich sind und wir alle die gleichen Potentiale haben. Aber, es ist nachgewiesenermaßen so, dass zu viele Schüler sich fälschlicherweise als Mathe-schwach erleben und von Mathe abwenden. Dies liegt an alten Mythen und Lehransätzen. Alle Schüler erleben Mathe anders, wenn es vielseitig, visuell, kommunikativ, forschend und respektvoll unterrichtet und erlebt wird.
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